Die Mitte und ihr Syndrom

Stefan Kraft

„Neoliberal Breakdown Syndrom“: So bezeichnen die drei linken Politikwissenschaftler Alex Hochuli, George Hoare und Philip Cunliffe in dem Buch „The End of the End of History“ [1] die „psychopolitischen Reaktionen“ der (links)liberalen Mitte auf das Ende eines für sie harmonischen Zeitalters. Dieses Syndrom des Zusammenbruchs der neoliberalen Ordnung betrifft alle, die „über ein hohes kulturelles Kapital“ verfügen „und sich im allgemeinen Umfeld der Mitte-Links-Parteien“ bewegen. Die Erschütterungen, denen sie ausgesetzt sind, haben sich im letzten Jahrzehnt gehäuft: Finanzkrise, Trump, Brexit, Euroskeptizismus, islamistischer Terror, Gelbe Westen und andere Populisten, schließlich auch noch eine weltweite Pandemie mit all ihren Maßnahmengegnern und Impfskeptikern.

„Auch wenn sie sich oft kritisch über die aktuelle Regierung äußern – und zwar oft ‚von links‘ –, fühlen sie sich in der heutigen Welt grundsätzlich wohl und zu Hause; sie haben sich mit den derzeitigen Regelungen gut arrangiert.“ Ihren Status als Kritiker konnten sie bequem im Home Office ausüben, „zufrieden in dem Wissen, dass sich die Welt nicht wirklich gegen sie bewegen oder gar nennenswert verändern wird“.

Mit der Gemütlichkeit ist es vorbei, spätestens seit ein Virus die Angehörigen der Mitte allerorten bedroht und eine Abteilung der Bevölkerung außerhalb der eigenen Twitter-Blase nicht willens ist, die von Regierungs- und Expertenseite vorgegebenen Maßnahmen dagegen mitzutragen. Analog zum Steigen der Inzidenzzahlen eskaliert die Mitte daher die Auseinandersetzung. Während bislang Bevormundung, Herablassung und Moralisierung zu den bevorzugten Argumentationswaffen der Liberalen gegen das irregeleitete Volk gehörten, ist man rasant zur Kriegsrhetorik übergegangen, wie Alan Schink auf Telepolis[2] vor kurzem so treffend beschrieben hat. „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“; wer schwurbelt, schwächt die Heimatfront und muss Verantwortung tragen für die Toten und Langzeitgeschädigten. Wer etwa den (weitgehenden) Hausarrest von Ungeimpften in Österreich als menschenverachtend zu bezeichnen wagt, wird schneller als er Luft holen kann mit den Worten „Intensivstationen“ und „Beatmungsgerät“ eingedeckt.

Aber die Wissenschaft

Die Vorwürfe und Schuldzuweisungen, die täglichen moralisierenden Postings ähneln in ihrer Schlussweise übrigens nicht selten jenen Meinungsäußerungen der ausgemachten Gegner in der Corona-Debatte. Man sieht es als höchst unmoralisch an, Corona mit der Grippe zu vergleichen, gleichwohl sind haarsträubende Vergleiche zwischen einer Anschnallpflicht und einer Impfpflicht ebenso legitimiert wie die postulierte Gemeinsamkeit vom Kampf gegen Pocken und jenem gegen Covid-19. Jede Information der Maßnahmengegner wird eiligst einem Faktencheck unterzogen, wenngleich alle Arten von spekulativen Worst-Case-Szenario-Modellrechnungen der Erkrankungen ein schnelles Retweeten bedingen – Hörensagen zu Impfnebenwirkungen wird als ebensolches gebrandmarkt, anonyme Aussagen Einzelner[3] zu den Zuständen in den Krankenhäusern gelten hingegen als empirischer Beweis. Nebenbei bemerkt: Ein guter Anteil all jener, die bei Kritiken am „Finanzkapital“ furchtbar schnell mit dem Vorwurf eines „strukturellen Antisemitismus“ bei der Hand sind, überlegen nicht zweimal, bevor sie die alleinige Schuld an einer Seuche (!) in einem klar eingegrenzten Bereich der Bevölkerung ausmachen.

In Krisenzeiten wie diesen wird unter den Liberalen der Ruf nach einer externen Autorität immer lauter – in der Corona-Krise hat man diese nun in „der Wissenschaft“ ausgemacht, die den Weg zu einem guten Leben auch allen Unaufgeklärten weisen soll. Tatsächlich kann es diese Wissenschaft im Singular aber nie geben, wie der in Zürich lehrende Psychoanalytiker Peter Schneider in seinem knappen Buch „Follow the Science“ argumentiert und sein Unbehagen mit den Worten ausdrückt: „Der Abwehrkampf gegen die Spinner dieser Welt hat den Blick auf die Wissenschaften enthistorisiert, dogmatisiert und unrealistisch werden lassen.“ Angemerkt sei: Dieser reduktionistische Wissenschaftsbegriff ist letztlich nicht viel mehr als ein höheres Wesen, das die Unsicherheit beseitigen soll.

Ein höheres Wesen muss retten

„Verschwörungstheoretiker“ und die als solche gelten bzw. in deren Nähe kommen, stehen mittlerweile im Fokus einer ganzen Armada an JournalistInnen, ExtremismusforscherInnen und politischen Kommentatorinnen. Doch diese vielfache Pathologisierung fördert wenig so Lesenswertes zutage wie jenen Kommentar des Londoner Professors Lee Jones[4], der auf die politischen Sehnsüchte hinter so mancher kruden Theorie aufmerksam macht.

Den politischen Sehnsüchten der sich in der Corona-Auseinandersetzung radikalisierenden Mitte wird hingegen kaum Beachtung geschenkt, trotz der weitreichenden Folgen ihrer medialen Macht. Sowohl die Klimakrise wie die weiter vor sich schreitende Erosion der liberalen Demokratie (zu der sie ihren Teil beigetragen hat) bedroht sie in ihrer Existenz als soziokulturelle Klasse ebenso wie der gestiegene Unmut eines irritierten und wütenden Teils der Bevölkerung, der im sozialen Abstieg begriffen ist. Da gerade die politische Mobilisierung inzwischen auch für viele Linke nur mehr als Bedrohung durch irrationale Extremisten wahrgenommen wird, liegt die folgerichtige Entscheidung für sie darin, auf Abriegelungen, verstärkte autoritäre Maßnahmen und eine Verschärfung des Diskurses gegen die Gegner der liberalen Ordnung zu setzen. Die politischen Hoffnungen richten sich darüber hinaus an die Riege der ExpertInnen, denen man die politische Führung lieber heute als morgen delegieren will. Womit ein zukünftiger progressiver Impuls dieser selbsternannten Progressiven nicht zu erwarten ist.


[1] Hochuli, Alex; Hoare, George; Cunliffe, Philip (2021): The End of the End of History. www.johnhuntpublishing.com.

[2] Schink, Alan (2021): Verschwörungsangst und Viruswahn. https://www.heise.de/tp/features/Verschwoerungsangst-und-Viruswahn-6274290.html?seite=all.

[3] https://www.vienna.at/spitaeler-in-ooe-am-limit-leichen-wegen-ueberfuellung-am-gang-abgestellt/7196231

[4] Jones, Lee (2021): Realitätsflucht im Spätkapitalismus. https://makroskop.eu/01-2021/verschwoerungstheorien-und-realitaetsflucht-im-spaetkapitalismus/